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Blog: Neue Diagnosekriterien behindern begabte Kinder mit Dyslexie

 

 

Autorin: Carmen Graemiger, lic.phil. Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie FSP und Vorstand VDS

15. September 2022

 
Unter Diagnostikern wird kontrovers diskutiert, ob bei der Diagnosestellung der Dyslexie der persönliche IQ relevant ist. Diese Diskussion wird verschärft durch die neuesten Ausgaben der beiden Diagnosemanuals DSM-5 und ICD-11. DSM-5 hat einen Paradigmenwechsel zu seinem Vorgänger DSM-IV vollzogen. Das Diskrepanzkriterium persönlicher IQ versus Lese-, Rechtschreibfertigkeiten wurde fallengelassen. Neu werden diese bloss mit dem Alter und der Klasse verglichen. Der ICD-11 hält am Vergleich Leistung versus IQ (wie im ICD-10) fest.

 

DSM-5: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition. Washington, DC, American Psychiatric Association, 2019

ICD-11: World Health Organization (2018). ICD-11 for mortality and morbidity statistics (2018)

 

Zeitnahe Therapie versus zuverlässige Diagnose

Befürworter der Diagnosestellung ohne IQ-Erhebung argumentieren, dass damit die Förderung eingeleitet werden kann, ohne eine aufwendige Schulpsychologische Abklärung mit langwierigem Anmeldeprozedere abzuwarten. Ohne Messung des IQs aber kann eine Dyslexie bei überdurchschnittlich Begabten unerkannt bleiben. Nicht selten sind ihre Leistungen im Vergleich zum Klassenverband unauffällig. So entsteht der Anschein, dass es sich um Schüler mit kognitiven Fähigkeiten im Durchschnittsbereich handelt – ohne Dyslexie.

 

Die Resultate schriftlicher Prüfungen bestimmen die Weiterschulung

Kinder mit überdurchschnittlich kognitiven Fähigkeiten sind wissbegierig und sollten die Oberstufe auf einem entsprechenden Niveau besuchen. Leiden diese Kinder unter einer unerkannten Dyslexie, wird eine entsprechende Einteilung in die Oberstufe verwehrt, weil sie die erforderlichen Noten in den Sprachfächern dafür nicht bringen.Das Wissen haben sie, aber sie können es schlecht dokumentieren, da sie Schwierigkeiten mit dem Lesen der Aufgabestellung sowie der schriftlichen Bearbeitung haben.

 

Der Nachteilsausgleich muss zwingend gewährt werden

Um überdurchschnittlich Begabte mit Dyslexie sicher zu erfassen, ist die Diagnosestellung gemäss ICD-11 mit Erhebung des IQs unabdingbar: Die Erfassung der Diagnose «Dyslexie» ist wichtig, damit Betroffenen durch den Nachteilsausgleich Prüfungsbedingungen erhalten, die ihnen gerecht werden.Dadurch ist es ihnen möglich, ihr Wissen zu zeigen, bei Prüfungen besser abzuschneiden und somit einen Beruf zu ergreifen, der ihnen entspricht und sie über längere Zeit befriedigt.
 
 

Kommentare

P. K.: Wichtig für die Betroffenen wäre ein Paradigmenwechsel – weg von einer Behinderung – hin zu einer Neurodivergenzen mit Stärken, welche nicht zwingend im benoteten Schulsystem zur Geltung kommen. Ein Nachteilsausgleich ist immer zu gewähren, wenn Einteilung und Beförderung von den Standradnoten abhängig sind.

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M. W.: Sehr geehrte Frau Graemiger: Sie sprechen in Ihrem Blog ein sehr zentrales Thema an, das viele Fragen aufwirft. Wäre es nicht besser, die Überlastung des SPD in Angriff zu nehmen statt die Diagnosekriterien zu Ungunsten der Betroffenen anzupassen? Oder ist diese Anpassung im Interesse der Kinder oder eine Sparmassnahme? Gibt es bei Dyskalkulie auch Anpassungen der Diagnosekriterien? Wissen Sie vielleicht, in welchen Kantonen bereits die amerikanischen Diagnosekriterien bei Dyslexie und Dyskalkulie gelten? 

Die Schweiz orientiert sich an den Diagnosekriterien der WHO und hat die Kinderrechte der UNO angenommen. Denken Sie, dass die Veränderung der Diagnosekriterien zu Ungunsten der Kinder rechtlich vor dem Übereinkommen über die Rechte der Kinder und dem Behindertengleichstellungsgesetz Stand halten würde? 

In der Sonderpädagogik haben die Konkordatskantone einen Vertrag abgeschlossen, in dem sich die Kantone zu den ICD-10 Kriterien geeinigt haben. Dürfen die Kantone die Kriterien ändern? Ist das rechtens? Wo kann man sich dagegen wehren? Versucht sich der Verband gegen diese Veränderungen zur Wehr zu setzen? Wenn ja, wie und wo?

Besten Dank und freundliche Grüsse

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N. L.: Vielen Dank für den Beitrag. Ich selber und wahrscheinlich auch unser Sohn, bekommen genau wegen dem Diskrepanzkriterium den NTA nicht. Die Konkordatskantone haben sich am 25.10.2007 verbindlich auf gemeinsame Standards im Umgang mit Kindern mit Behinderung und die Diagnosekriterien SAV geeinigt. Die ICD-Standards sind hier drin verankert. Die Schulpsychologischen Dienste vieler Gemeinden in der Schweiz passen die Kriterien an die Amerikanischen DSM-5 an. Wie ist dies rechtlich zu vereinbaren?

Wie setzt sich der Verband ein? Was sehen Sie für Möglichkeiten? Wo könnte ich allenfalls Beschwerde einreichen? Wie müsste ich vorgehen?

Ich finde dieser Umgang mit Kindern mit Beeinträchtigung/Behinderung skandalös. Gedenkt der Verband oder Inclusion Handicap mit diesem brisanten Thema an die Medien zu gehen?

Vielen Dank für Ihre Antwort.

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Stellungnahme Carmen Graemiger zu den Kommentaren:

Das DSM-5 und das ICD 10 sind geichwertige offizielle und weltweit anerkannte Diagnostische Manuale. Der VDS kann da unmöglich verbieten, das eine oder das andere Werk zu benutzen.

Erfreulich ist, dass das ICD am doppelten Diskrepanzkriterium festhält - auch in der neuesten Ausgabe (ICD 11). Somit können Eltern und Betroffene darauf bestehen, dass man dieses anwendet, wenn die Resultate für eine Dyslexie- und /oder einer Dyskalkuliediagnose zu knapp sind. Sollte dies ein SPD nicht durchführen wollen, so gibt es auch andere anerkannte Fachstellen, wo man die Abklärung nach ICD wiederholen könnte.

Leider kann ich keinen besseren Rat erteilen. Falls sich Betroffene zuwenig durchsetzen können, so empfehle ich die Kurse über Self-Advocacy mit Monika Lichtsteiner.

Der rechtliche Weg bleibt zudem für Betroffene offen.